Globale Katastrophen provozieren in manchen Kreisen Weltuntergangsszenarien und lassen Leute hervortreten, die andere – aus welchen Gründen auch immer – ängstigen. Gleichzeitig steigt in anderen Kreisen der soziale Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft. So erzeugt auch die Corona-Krise einerseits massenweise fake news, die in manchen social network-Echokammern gern geglaubt und weiterverbreitet werden; andererseits bringt sie video-clips und Botschaften hervor, die unsere derzeitigen Verhaltensweisen – seien sie notwendig oder auch einer gewissen Panik geschuldet – aufs Korn nehmen und mit ihren Pointen zum befreienden Lachen anregen.
Tatsache ist, dass Situationen, die das Leben so völlig und so schnell verändern, einer Deutung bedürfen. Man muss sich dazu verhalten, seine Weltbeziehungen neu ordnen und das Erlebte in Worte fassen, um es begreifen zu können. Wir brauchen eine Geschichte, die uns die neue Lage erfassen lehrt, ein Narrativ, das uns diese neue Welt verständlich werden lässt. Hartmut Rosa, durch Bücher wie Beschleunigung, Resonanz und Unverfügbarkeit bekannter Soziologe und einer unserer Partner im Internationalen Graduiertenkolleg Resonante Weltbeziehungen, kann in einem Interview vom 21.3. in der Süddeutschen Zeitung der derzeitigen Krisensituation durch sein Narrativ der Entschleunigung dieser Corona-Krise durchaus Positives abgewinnen. Er schreibt dies freilich aus seinem abgeschiedenen Schwarzwaldhaus – in Bergamo würde er derzeit wohl zu einer anderen Deutung kommen…
Wo Menschen einer Lebensbedrohung hilflos ausgesetzt sind, kann es zur Traumatisierung kommen, die in der Folge schwere psychische und auch physische Beeinträchtigungen nach sich ziehen kann. Teams der Krisenintervention versuchen Menschen in solchen Situationen zu helfen. Der erste Schritt ist immer, sie über das schreckliche Erlebte reden zu lassen, ohne vorschnelle Deutungen oder Ratschläge zu geben. Traumatisierte müssen aus ihrer Ohnmachtserfahrung des hilflosen Erleidens herausgeholt werden und wieder das Gesetz des Handelns in die Hand bekommen.
Viele biblische, insbesondere prophetischen Texte, die katastrophische Ereignisse literarisch widerspiegeln, werden inzwischen mit dieser Trauma-Hermeneutik gelesen: Dort reden Traumatisierte von einem Gott, der all das Unheil zur Strafe für begangenes Unrecht und Fehlverhalten geschickt habe. Sie tun dies, um nicht noch ohnmächtiger zu werden, indem sie sich in ihrem altorientalischen Kontext auch noch sagen lassen müssen, dass ihr Gott zu schwach war, sie vor der Gefahr zu bewahren und in der Schutzlosigkeit zu retten. Die Schuld bei sich selber zu suchen, kann ein Anfang sein, um wieder handlungsfähig zu werden. Denn wenn ich etwas dazu getan habe, dass es so gekommen ist, kann ich in Zukunft etwas vermeiden und damit ein Stück Sicherheit bekommen, nicht wieder in eine ähnliche Situation zu geraten. Es ist also eine Strategie der Krisenbewältigung, mit der man seinen Glauben an einen rettenden Gott, der dem Unglück der Menschen nicht untätig zusieht, bewahren kann.
Eine Pandemie als Geisel Gottes zu bezeichnen ist aber nur jenen erlaubt, für die das im Zuge der Verbalisierung des Erlebten einen ersten Ausweg aus der Krise darstellt. Wer Traumatisierten einzureden versucht, dass die Notlage als Strafe Gotte zu verstehen sei, potenziert in verantwortungsloser Weise deren seelische Belastung und ist – wie schon das Buch Hiob lehrt – theologisch völlig verkehrt. Woher kommt das Leid? Das ist – neben der Unverfügbarkeit des Lebens und des Sterbens – eine der großen Menschheitsfragen, die in Anbetracht von Naturkatastrophen und eben auch von Pandemien auch bei uns nach einer längeren Phase des Wohlergehens nun wieder gesamtgesellschaftlich von Bedeutung werden.
Das kollektive Gedächtnis hält viele Narrative zum Begreifen bereit. Nicht alle sind für eine Aktualisierung geeignet – ganz sicher nicht jene der Geisel Gottes. Aber wir werden auch nach Abklingen der Corona-Pandemie zur Bewältigung der Krise Narrative als Orientierungshilfe brauchen und finden. Sie werden sicher von Handlungsanweisungen, was man künftig zu tun oder zu unterlassen habe, begleitet werden und dafür Ursachenforschung in Bezug auf unser Handeln in der Vergangenheit betreiben. Ganz sicher wird sich aufgrund der weltweit sich verbreitenden Erschütterung unser Sicherheitsgefühl und unser Verhältnis zum Tod verändern.
Univ. Prof. Dr. Dr.h.c. Irmtraud Fischer, Univ. Graz
Foto: Wikipedia/The plague of locusts, Detail aus der Holman Bible von 1890 / Public domain